24.03.2014

BILDUNG Fußmarsch zum E-Book

Von Schmundt, Hilmar

Viele Verlage behindern die Bibliotheksausleihe elektronischer Werke, aus Angst vor Piraterie. Betroffen sind auch Aufsätze und Bücher von Forschern - zum Nachteil der Wissenschaft.

Als der Schriftsteller Johann Gottfried Seume im Jahr 1802 seinen "Spaziergang nach Syrakus" machte, steuerte er auf dem Weg von Sachsen bis Sizilien gern die lokale Bibliothek an. Bücher waren früher oft nicht ausleihbar. Wer lesen wollte, musste mobil sein.

Jetzt ist es wieder so weit. Wenn ein Student aus Freiburg ein Papierbuch der Universitätsbibliothek Basel lesen will, kann er es über Fernleihe bestellen. Sollte es jedoch nur als E-Book vorliegen, gibt es meist keine Fernleihe. Dann muss er in den Zug nach Basel steigen und es sich dort an einem Uni-Computer durchlesen.

Ein Paradox: Was in der Papierära des 20. Jahrhunderts noch per Fernleihe um die Welt ging, wird in Zeiten des Internets lokal gehütet. Es ist gerade die Leichtigkeit, mit der elektronische Schriften um die Welt geschickt werden können, die nun dazu führt, dass man sie digital wegsperrt. Das Buch kommt nicht zum Leser, sondern der Leser zum Buch. Wie im 19. Jahrhundert.

Die Fernleihe wurde 1893 in Preußen festgeschrieben, mit dem "Erlass betreffend den Leihverkehr". Doch der gilt nicht im elektronischen Neuland. Hier diktieren die Verlage den Bibliotheken ihre Konditionen, getrieben von der verständlichen Angst vor Raubkopien. Das Nachsehen haben die ehrlichen Leser.

Für die E-Books etlicher Verlage gibt es bislang gar keine Verleihlizenzen: Droemer Knaur, Kiepenheuer & Witsch, S. Fischer und Rowohlt zum Beispiel sind auf der Verleihplattform "Onleihe" nicht vertreten. Daher lassen sich wichtige Werke wie "Der Große Krieg" des Berliner Politikwissenschaftlers Herfried Münkler nicht elektronisch ausleihen. In der Papierwelt undenkbar.

Viele elektronische Bücher existieren überhaupt nur auf geschlossenen Plattformen wie iBooks von Apple oder Kindle von Amazon. Etliche Verlage erschweren den Zugang zu ihren Werken durch Schutzprogramme. Der Konzern Adobe, auf dessen System ein Großteil aller E-Books basiert, stellt gerade seine Software um. Viele ältere Lesegeräte könnten die neuen E-Books vielleicht bald gar nicht mehr anzeigen.

Es geht hier nicht nur um den jüngsten Krimi von Jussi Adler-Olsen. Es geht um den Kern der Wissensgesellschaft: Aufsätze und Bücher von Forschern. "Wir haben Tausende E-Books, die wir unseren Nutzern per Internet zur Verfügung stellen könnten", sagt Harald Müller, Jurist und Bibliotheksleiter am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg. "Das dürfen wir aber oft nicht, weil die Nutzungslizenzen so restriktiv sind."

Das Urheberrecht führe oft zu "putzigen Skurrilitäten", sagt der Forscher: Angenommen, er will einen bestimmten Aufsatz per Fernleihe von einer amerikanischen Bibliothek einsehen. "Die Kollegen drucken den dann auf Papier aus, schicken ihn per Fax - und ich scanne ihn hier wieder ein." Nur, weil das Verschicken per E-Mail nicht erlaubt ist.

Natürlich ist es legitim, dass Verlage versuchen, ihre Einnahmen gegen Raubkopierer zu verteidigen. Doch derzeit geht die Abwehr oft einseitig zu Lasten ehrlicher Kunden. So dürften Bibliotheksnutzer E-Books oft "nicht ausdrucken oder auf einem USB-Stick speichern", sagt Oliver Hinte, Vorsitzender der Rechtskommission des Deutschen Bibliotheksverbands. Bloß was dann? Abschreiben?

"Um Piraterie zu verhindern, gibt es längst geeignete technische Lösungen", sagt Gerald Schleiwies, Mitarbeiter der Stadtbibliothek Salzgitter. "Durch digitale Wasserzeichen lassen sich Dokumente personifizieren, da steht dann auf jeder Seite fett mein Name, der lässt sich nicht so leicht entfernen wie der sogenannte Kopierschutz."

Für seine Promotion muss er derzeit oft quer durch die Republik reisen, er besitzt fünf Bibliotheksausweise: "Das Einscannen und Mailen von Auszügen ist nicht mehr erlaubt."

Absurde Beispiele gibt es viele. Franco Moretti etwa, Professor für Literaturwissenschaften an der kalifornischen Stanford University, wurde berühmt mit seinem "Atlas des europäischen Romans". Seine Forschungsmöglichkeiten enden nun dort, wo ein übertrieben starres Urheberrecht greift: Es schützt Werke bis 70 Jahre nach dem Tod der Autoren. Wer aktuellere Literatur einscannen wolle, sagt Moretti, lebe gefährlich: "Das Gespenst des Copyright schützt sie vor unserem Zugriff. Schade."

"Derzeit haben die Rechteinhaber oft eine einzigartige Machtposition", sagt Oliver Hinte. "Eine Neuregelung und Vereinfachung des Urheberrechtsgesetzes ist überfällig."

Bitter ist nur: In vielen Fällen bezahlt die Leserschaft mit Steuergeld jene Autoren an den Universitäten, deren Werke ihr vorenthalten werden. Und: Gut möglich, dass sich ein Professor das Fachjournal nicht leisten kann, in dem er publiziert. Denn den Unis fehlt das Geld.

15 000 Euro für ein Jahres-Abo sind keine Seltenheit, das "Journal of Comparative Neurology" etwa kostet weit über 20 000 Euro. Die Autoren, die in solchen Fachzeitschriften publizieren, bekommen dafür meist keinen Cent. Verlagskonzerne wie Reed Elsevier dagegen erreichen regelmäßig Umsatzrenditen von über 25 Prozent vor Steuern.

"Wissenschaftsverlage machen so viel Geld, weil sie die Ware vom Steuerzahler kostenlos einsammeln und überteuert an ihn zurückverkaufen", sagt Günter M. Ziegler, ein vielfach ausgezeichneter Mathematiker von der FU Berlin.

Bis vor zwei Jahren war Ziegler Mitherausgeber zweier Mathematik-Fachzeitschriften im Elsevier-Verlag. Dann schloss er sich einem Boykott an, gemeinsam mit inzwischen mehr als 14 000 anderen. Er arbeitet jetzt an einem Fachjournal, das für jeden im Internet einsehbar ist, nach dem Prinzip "Open Access" - offener Zugang. Elsevier sagt, dass dem Streit weniger ein Interessenkonflikt als ein Missverständnis zugrunde liege.

Tatsächlich gibt es erste Kompromisse: Seit Januar zahlen Institutionen wie das Teilchenforschungszentrum Cern bei Genf an Elsevier eine Pauschale für die Betreuung von Physik-Journalen - die Artikel sind dafür frei zugänglich.

Die Feinjustierungen sind oft winzig, aber wirkungsvoll, wie etwa bei verwaisten Werken, deren Autoren nicht mehr ermittelt werden können.

Bisher durften zum Beispiel alte, zerbröselnde Zeitungen nicht digitalisiert werden, solange nicht sämtliche Urheber gefragt worden waren - Kulturgut fiel dem Copyright zum Opfer. Seit Januar begrenzen neue "Schrankenregelungen" das Urheberrecht, so dass das Einscannen verwaister Werke einfacher geworden ist.

Derlei kleine Änderungen könnten durch die Hintertür auch ermöglichen, dass Wissenschaftler ihre Aufsätze ins Internet stellen - allerdings erst ein Jahr nach Erscheinen in einem Fachjournal. Ab 2015 dürften die ersten dies wohl tun.

Bis dahin gilt für Wissensdurstige: Sie reisen künstlich verknappten E-Books hinterher, um sich vor den Monitor einer Bibliothek zu setzen. Und sich handschriftlich Notizen zu machen - wie einst Mönche in klösterlichen Skriptorien. Oder wie der wandernde Literat Seume auf seinem Spaziergang nach Syrakus vor über 200 Jahren. Zurück in die Zukunft.


DER SPIEGEL 13/2014
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